Buchtemplate

”45 Minuten bis Ramallah” behandelt den israelischen-palästinensichen-Konflikt aus der Sicht zwei palästinensische Brüder. Sie müssen die Leiche ihres verstorbenen Vaters aus Ost-Jerusalem zur letzten Ruhe nach Ramallah bringen. Auf dem Weg dorthin wird das Auto, samt Leiche, gestohlen. Weil Ostjerusalem von Israel annektiert ist, sind die beiden sowohl Israelis wie auch Palästinenser. Für die Israelis sind sie Palästinenser, für die Palästinenser Israelis. Egal wo sie sich befinden, sie sind immer auf der falschen Seite – mit verheerenden Konsequenzen. Die Reise, normalerweise dauert sie 45 Minuten, wird zu einer Odyssee.
Hier Buch beim Verlag bestellen

Gedanken über Zivilpolizisten

In der einen Hand seine Reisetasche, unterm Arm die große Schachtel mit einer Kaffeemaschine, steuert er mit den anderen Passagieren auf die Passkontrolle zu und versucht dabei, unauffällig in der Menschenmenge zu verschwinden.

„Hey, du da!” ruft eine Stimme.

Reflexartig duckt er sich ein wenig, zwingt sich dann aber, den Befehlston zu ignorieren und geht weiter. Noch fünf Meter bis zur Empfangshalle, er hat es fast geschafft.

„Du mit der Lederjacke!”

Er zögert für einen kurzen Augenblick, nur den Bruchteil einer Sekunde, und der verrät ihn. Sieben Jahre, seit er das Land verlassen hat, und er reagiert immer noch gleich, mit Angst. Willkommen zu Hause, murmelt Rafik und wendet sich dem Zivilbeamten zu.

„Meinen Sie mich?”

„Komm her!” befiehlt der Zivilbeamte. „Deinen Ausweis bitte!”

Rafik reicht dem Mann seinen Ausweis. Der Zivilpolizist schlägt ihn auf.

„Rafik Abu-Raba?”

„Wenn‘s da steht.”

Der Polizist starrt Rafik eine Weile durch seine verspiegelte Sonnenbrille an. Rafiks pampiger Ton gefällt ihm gar nicht.

„Woher kommst du?”

„Aus Hamburg.”

„Hamburg. So, so. Was hattest du da zu suchen?”

„Nichts Besonderes.”

Anscheinend hat der Polizist eine ausführlichere Antwort erwartet, denn er starrt Rafik nur an und wartet.

„Ich habe da ein Restaurant.”

„Für Palästinenser?”

„Unsere Kundschaft ist international.”

„Ich habe gefragt, ob es da auch Palästinenser gibt!” schnauzt der Beamte ungeduldig.

„Vielleicht sind auch ein paar Palästinenser darunter. Ich weiß es nicht. Wir kontrollieren nicht die Ausweise.”

„Terroristen?”

„Machen Sie Witze? Terroristen zahlen nicht. Bei uns kommen nur Gourmets.”

Langsam wird der Beamte wütend. Er arbeitet rund um die Uhr, opfert seine besten Jahre für die Sicherheit des Landes, und das ist der Dank. Was hat er von dem Arschloch denn schon verlangt?! Eine Niere?! Nein, nur etwas Respekt. Das versteht aber der elende Araber nicht.

Kurz darauf sitzt Rafik auf einem unbequemen Hocker an einem Metalltisch in einem Raum mit vergitterten Fenstern. Vor ihm liegen ein Schreibblock, ein Stift und ein Ordner mit den Bildern gesuchter Terroristen.

„Taufik Al Arabia.” Der Zivilpolizist zeigt auf ein Fahndungsfoto. Ein Mann mit einer riesigen Nase, der wütend in die Kamera schaut. „Kennst du ihn?”

„Ist mir nicht bekannt”, antwortet Rafik.

Der Zivilbeamte verschränkt seine Arme hinter dem Kopf, lehnt sich in seinem Schreibtischsessel zurück und starrt Rafik wortlos an. Rafik starrt zurück. Er hat immer versucht. Konfrontationen aus dem Weg zu gehen. und bis heute ist es ihm auch gelungen. Sich als freier Märtyrer melden und sein Leben als wandelnde Bombe zu beenden, diese Alternative hat Rafik schon immer als nicht befriedigend empfunden. Deshalb hat er das Land auch verlassen. Und jetzt drängt ihn dieser Sicherheitsbeamte in die alte Rolle. Das macht Rafik wütend. Woher nimmt der Typ seine Selbstgefälligkeit? Hat er sie von Geburt an gehabt? Und wie kommt es, dass so viele Typen von dieser Sorte herumlaufen? Muss eine Genmanipulation sein. Eine spezielle Züchtung. Sie werden in ihren grauen Anzügen und mit kurz geschnittenen Haaren geboren. Die verspiegelten Sonnenbrillen bekommen sie wahrscheinlich zur Bar Mitzwa, dem jüdischen 13. Geburtstag. Dann werden sie nach dem Alten Testament zu Männern. Sie sehen alle gleich aus und sagen nie mehr als das Nötigste in kurzen Sätzen. Doch die These von der Genmanipulation gefällt Rafik nicht. Solche Gedanken führen irgendwann zur Rassentheorie. Aber wenn es keine Genmanipulation war, wie produziert man dann so viele identische junge Männer? Vielleicht haben die Sicherheitskräfte einen psychologischen Test entwickelt? Ein Verfahren, das nur Leute bestehen können, deren Gesprächsbeteiligung sich beim Abendessen auf „Gib mir mal das Salz” beschränkt. Danach bekommen sie noch eine Spezialausbildung, wie sie mit Arabern zu reden haben: „Herkommen! Ausweis! Mund halten!” Aber vielleicht reden sie zu Hause ganz normal. Das kann sich Rafik nur schwer vorstellen. Sie reden eher wie Giovanni, wenn er gut gelaunt ist. Und Manfred, der Mann von Eve. Der redet auch nur mit kurzen Befehlen. Also haben die Israelis Ähnlichkeit mit Italienern und Deutschen. Ein verblüffender Gedanke, findet Rafik. Bei der Überprüfung von weiteren Nationen würde man vielleicht noch mehr Ähnlichkeiten finden, und das zeigt nur, dass es gar keine großen Unterschiede zwischen den Menschen der Welt geben kann. Diese Erkenntnis wäre eine gute Basis, um alle Nationen der Welt zusammenzubringen. So weit war nicht einmal Karl Marx.

Der Beamte schlägt eine Seite in seiner Mappe um und zeigt Rafik weitere Gesichter.

„Erkennst du da jemanden?”

„Sind mir alle unbekannt. Freunde von dir?” Er schiebt dem Beamten die Bilder zurück. Die Ohrfeige wirft Rafik vom Stuhl, und bevor er begreift, wie ihm geschieht, steht er auf und macht einen Schritt auf den Sicherheitsbeamten zu. Der zieht seine Pistole.

„Zwing mich nicht zu schießen”, sagt der Beamte. Er legt die Pistole auf den Tisch und setzt sich wieder. Der Araber geht ihm schon die ganze Zeit auf die Nerven, spielt da den Naiven. Aber der Beamte hat schon ganz andere Typen getroffen. Am Ende reden sie alle.

Rafik zittert am ganzen Körper, versucht sich zu beherrschen. Er will dem Beamten an die Gurgel, aber da würde er den Kürzeren ziehen.

„Du darfst nicht auf einen Unbewaffneten schießen“, sagt Rafik.

„Du willst mir Vorschriften machen, was ich nicht tun darf, du Arschloch! Ich sage dir, was ich darf! Ich schlag dich jetzt zusammen und dann steck ich dich ins Loch. Das darf ich, weil du ein Sicherheitsrisiko bist, und es ist meine Pflicht, das Land vor Terror zu schützen. Also fang einfach an zu singen und versuch nicht mit mir zu verhandeln, ich kaufe bei dir keine Tomaten auf dem Markt.”

Rafik weiß, dass der Sicherheitsbeamte es kann. Zu oft hat er gesehen, wie Soldaten einen Palästinenser zusammenschlagen und wegschleppen. Ohne Anlass und ohne Haftbefehl. In diesem Land ein Palästinenser zu sein ist ein Nachteil. Das hat Rafik schon im Kindergarten erkannt. Deshalb wollte er ein Israeli werden. Ein echter Israeli, nicht ein arabischer. Dann müsste er sich vor nichts und niemandem fürchten. Diese Vision gefiel aber den älteren Kindern nicht. Sie haben Rafik zusammengeschlagen. Da hatte er verstanden: Partei mit dem Sieger zu ergreifen ist auch nicht von Vorteil. Als er zwölf war, warfen ein paar Jungen aus der Nachbarschaft Steine auf Soldaten. Ein Gummigeschoss traf Emil aus der achten Klasse ins Auge. Seitdem hatte er eine Augenklappe wie ein Pirat. Drei andere wurden verhaftet. Die Familien wandten sich an Hilfsorganisationen, aber wenn die juristischen Räder einmal ins Rollen kommen, lassen sie sich nicht mehr aufhalten. Die Jungen, alle unter vierzehn, wurden für drei bis fünf Jahre ins Gefängnis gesteckt, und als sie endlich frei kamen, war es noch längst nicht zu Ende. Georg bekam nicht einmal]einen Taxischein, er hatte schon eine Akte als Terrorist. Aus demselben Grund gab es für Marwan keinen Studienplatz an der Uni, und Kamil starb, als er an einer hausgemachten Bombe bastelte. Schuld daran war sein Englischlehrer, weil Kamil den Begriff ”Delayed Ignition” nicht verstanden hatte. Und weil die Bombe bei der Zündung nicht gleich hochging, kam er zurück, um sie zu überprüfen. Leider kam er nicht mehr dazu, daraus zu lernen. Bei der Beerdigung behauptete der Englischlehrer noch, dass Kamil sein Lieblingsschüler gewesen sei.

„Hören Sie, ich habe zwölf Leute, die für mich arbeiten, und mehr als 350 Gäste täglich. Alles nette Leute, die ein gutes Essen schätzen… italienisches – Cotoletta alla milanese, Fegato alla veneziana, Pizza Quattro Formaggi…“

Der Polizist schaut auf seine Armbanduhr, in zwanzig Minuten ist sein Dienst zu Ende, und jetzt steckt er hier mit dieser Nervensäge fest.

„Alles aufschreiben!” sagt der Polizist. „Name, Adresse des Restaurants, sämtliche Stammkunden und die Speisekarte auch.”

Der Beamte verlässt den Raum. Rafik schaut verblüfft auf das leere Blatt Papier. Weil er es nicht besser weiß, fängt er an zu schreiben: Pizza Rabbiata… oder heißt es Pizza all’ Arrabbiata? So genau weiß es Rafik nicht. Rabbiata heißt hart, vermutet Rafik. Arrabbiata klingt eher Arabisch und könnte deshalb weitere Fragen hervorrufen. Er schreibt Rabbiata. Klingt auch irgendwie ein bisschen Hebräisch. Bei Quattro Formaggi ist er sich auch nicht sicher. Formaggi oder Fromaggi. Das weiß der Beamte aber auch nicht, oder? Und wenn schon. Man würde Rafik nicht wegen eines Schreibfehlers im Italienischen festnehmen. Diese Menschen hassen ihn, weil er Palästinenser ist, und das kann Rafik nicht ändern, egal ob es Formaggi oder Fromaggi heißt.

Eine halbe Stunde später kommt ein dicker Beamter herein.

„Wo ist Avi?” fragt der Dicke.

Das weiß Rafik nicht.

„Und was machst du hier?”

Das weiß Rafik auch nicht, aber er hat eine ausführliche Liste aufgestellt, so wie der Beamte Avi es sich gewünscht hat. Der Dicke überfliegt das Geschriebene: „Pasta con carne, Maccaroni Milanese, Pizza Rabbiata… Was soll das?”

„Hab ich mich auch gefragt”, sagt Rafik. „ Offizier Avi wollte, dass ich das aufschreibe. Kann ich jetzt gehen?”

Der Dicke schaut sich Rafiks Ausweis an. „Sie kommen aus Deutschland?”

„Ja.”

„Wie lange waren Sie da?”

„Das habe ich schon alles Ihrem Kollegen gesagt…”

„Es steht aber nicht in Ihrem Bericht”, sagt der Dicke.

„Ja… Ihr Kollege wollte nur wissen, was wir da kochen…”

Der Dicke grübelt. Was soll er bloß mit diesem Verrückten machen? Er hat Karten fürs Theater heute Abend. Er schaut auf seine Uhr, dann gibt er Rafik den Ausweis zurück.

„Angenehmen Aufenthalt in Israel.”


Ramadan ist auch auf meinem Teller

»Kein Hunger?«, fragt Rafik.

»An Ramadan soll man tagsüber nicht essen. Außerdem, das ist Schwein.«

Rafik zuckt mit den Schultern und schiebt noch ein Stück Omelett in seinen Mund.

»Bacon ist kein Schwein«, sagt er mit vollem Mund.

Jamal wendet sich ab, versucht auf andere Gedanken zu kommen. Aliya zum Beispiel, sie fehlt ihm so sehr. Und Mama, und Vater. Doch sein Blick kehrt wie hypnotisiert immer wieder auf den Teller seines Bruders zurück. Rafik hat es bemerkt. Er pickt mit der Gabel noch eine Bratwurst auf und hält sie Jamal vor die Nase.

»Aber riechen darfst du. Hier, genieß es!« Rafik steckt die Bratwurst in seinen Mund. »Köstlich.«

Jamal starrt Rafik wütend an. Warum quält ihn sein Bruder so? Dann kann er sich nicht mehr beherrschen und sticht mit der Gabel in Rafiks Bratwurst.

»Was tust du da?«, fragt Rafik.

»Du hast recht. Schmeckt richtig gut«, antwortet Jamal und pickt sich noch ein Stück von Rafiks Teller.

»Hör auf!«, sagt Rafik wütend. »Ich hasse das!«

»Jetzt übertreibst du aber.«

Jamal verschlingt die Bratwurst und will sich noch eine nehmen, aber Rafik schirmt seinen Teller ab.

»Wirklich, so ein Theater wegen einer Bratwurst«, sagt Jamal und schnappt sich ein Stück Omelett vom Tellerrand.

»Wenn du so verrückt nach Bratwürsten bist, warum holst du dir dann nicht selbst welche?«

»Ramadan«, erklärt Jamal lakonisch.

»Auf meinem Teller ist nicht weniger Ramadan«, sagt Rafik und hält seinen Teller fest.

Jamal zieht beleidigt die Gabel zurück und schaut schweigend zu, wie sein Bruder weiter isst. Doch die gekränkten Blicke seines Bruders irritieren Rafik zu sehr. Er hört auf zu essen und schiebt seinen Teller zu Jamal hinüber.

»Kannst du haben.«

Jamal ist sich nicht sicher, ob Rafik es ernst meint.

»Nimm schon«, fordert Rafik seinen Bruder auf. »Es sind deine Flitterwochen! Du darfst alles haben, was du willst.«

Rafik steht auf und geht noch mal zum Büfett. Das Angebot ist vielversprechend: Gambas in Guacamole-Soße, Indonesische Feuerwerkssuppe und Ähnliches machen ihn sehr neugierig. Nach einigem Überlegen füllt Rafik seinen Teller nochmal mit Ham & Eggs. Der Oberkellner folgt ihm zurück zum Tisch und fragt, ob die Herrschaften noch einen Wunsch haben? Nein, danke. Aber vielleicht weiß der Herr, wo Olga bleibt.

»Olga?« Es tut dem Kellner leid, aber er kennt keine Olga.

»Die attraktive Kellnerin, mit der wir gekommen sind!«, erläutert Rafik.

Dass die Frau attraktiv ist, hat der Kellner mitbekommen, aber sie arbeitet nicht im Hotel. »Wollen die Herren die Rechnung haben? Es gibt gleich einen Schichtwechsel.«

Jamal und Rafik schauen sich entgeistert an.

»Hast du Geld?«, fragt Rafik, nachdem der Kellner gegangen ist.

»Klar.«

»Dann geh und zahl die Rechnung«, fordert Rafik Jamal auf.

»Warum ich? Es war dein Essen.«

»Typisch«, stöhnt Rafik. »Du isst alles von meinem Teller, und ich darf noch bezahlen.« Er steht auf, geht zur Garderobe und zieht schweigend seine Jacke an.

»Wir können auch teilen«, schlägt Jamal vor. «Obwohl du eindeutig mehr gegessen hast.«

Jamal steckt die Hand in die Tasche, sucht nach seinem Portemonnaie, aber die Tasche ist leer. Die andere Tasche auch. Er sucht auf dem Boden, aber sein Portemonnaie ist nicht zu finden. Jamal gerät in Panik. Jetzt hat auch Rafik bemerkt, dass seine Taschen leer sind.

»Dieses Miststück!«, flucht Rafik.

»Du bist so naiv, Rafik, die Schlampe hat dir total den Kopf verdreht.«

»Statt mir ständig zu erzählen, was ich alles falsch mache, könntest du dir vielleicht auch mal Gedanken darüber machen, wie wir dieses Problem lösen!«, faucht Rafik Jamal an. Er sucht weiter in seinen Taschen, aber die sind genauso leer wie vorher.

»Also, wirklich. Der ganze Schlamassel ist auf deinem Mist gewachsen. Sieh zu, dass du auch allein da wieder rauskommst.«

»Gut«, sagt Rafik. »Ich zähle bis drei, und wir hauen ab.«

Das findet Jamal falsch. »Wegrennen heißt, dass wir schuldig sind, und das sind wir nicht.«

»Da hast du recht«, sagt Rafik und geht Richtung Hinterausgang. Jamal zögert eine Sekunde, dann folgt er seinem Bruder. Sobald sie aus dem Hotel sind, sucht Rafik in seinen Taschen nach den Wagenschlüsseln. Aber weder Schlüssel noch Wagen sind da.

Hier Buch beim Verlag bestellen